Stalin der Mythos
Erstausstrahlung: Dienstag, 4.März 2003, 20.15 Uhr • ZDF
Buch • Regie Peter Adler • ZDF • 45 Minuten
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Er wurde zum Übervater aller Sowjetmenschen stilisiert, zum allwissenden und gerechten Lenker des Volkes. Welche Verbrechen im Schatten der Verklärung geschahen, blieb den meisten Zeitgenossen verborgen. Die Liste der Stalin-Opfer ist lang: Bauern, Militärs, Juden, Geistliche, Parteifunktionäre, Revolutionäre. Ob 20 Millionen Menschen oder mehr sterben mussten, ist bis heute umstritten. Das alles vertuschte die Propaganda mit trügerischen Parolen. Ob Zigtausende durch Hungersnöte umkamen oder während der sogenannten »Säuberungen« - nichts sollte den Glanz des »Stählernen« trüben. Die »Herrschaft der Lüge«, wie Boris Pasternak sie nannte, nahm unter Stalin extreme Formen an.
Das Bild, das sich die Menschen von Stalin machten, war Produkt einer bewussten Fälschung: Nichts schien den Georgier zum Sowjetführer zu prädestinieren. Stalin war von kleiner Gestalt, der linke Arm verkrüppelt, das Gesicht pockennarbig, er wirkte schmalschultrig. »Erst nach einiger Zeit wurde mir klar, dass der Mann, dem ich gerade begegnete Stalin war«, sagt Leonid Zamjatin im Interview: »Ich kannte ihn nur von diesen majestätisch monumentalen Porträts«. Es existieren kaum private Fotos oder bewegte Bilder vom Kremlherrscher. Bei offiziellen Aufnahmen übernahmen mitunter Doppelgänger seinen Part. Selbst das von seinen Biographen angegebene Alter traf nicht zu. Wer es wagte, in seiner wechselvollen Vergangenheit zu wühlen, wurde umgebracht.
Ebenso erfunden wie seine angebliche Nähe zu Lenin. Tatsächlich spielte er in den entscheidenden Stunden der Erhebung eine marginale Rolle. In Wort und Schrift hatte er wenig Talent und war als abgebrochener Priesterseminarist eher von geringer Bildung - dafür aber von einem unbezwingbaren Willen zur Macht und entschlossen, sie rücksichtslos anzuwenden.
Das selbst erschaffene Trugbild, überliefert auf der Bühne und im Film, in Musik, Poesie und Prosa, hat viele Facetten. Es zeigt den Landesvater, der sich gern mit Kindern ablichten lässt - darunter waren solche, deren Eltern später in den Gulags sterben mussten. Engelsina Markizova, das »Mädchen in Stalins Armen« berichtet von ihrem Schicksal.
Die zeitgenössischen Filme zeichnen das Bild vom unfehlbaren Politiker. Die Propaganda betrieb einen Kult der Vergötterung während Millionen von Menschen wegen Misswirtschaft an Hunger starben.
Der »Generalissimus« galt als der umstrittene Sieger im »Vaterländischen Krieg« gegen Hitler. Dieser Krieg, sagen heute ehemalige Sowjetgeneräle, war gerade auch wegen Stalin so verlustreich. Erst als er erfahrenen Mititärs wie Schukow das Kriegshandwerk überließ, stellten sich Erfolge ein. Am Ende des Krieges gab sich Stalin als Befreier im Bund mit den Westalliierten und doch unterjochte er vor den Augen der Welt ein Volk nach dem anderen.
Einsam war Stalin auf dem Höhepunkt seiner Macht. Sein herrisches Wesen, seine Selbstsucht und sein Verfolgungswahn nahmen ihm fast alle Menschen in seiner engsten Umgebung. Die Tyrannei seines Regimes spiegelte sich auch in seinem Privatleben. Doch das war ein Geheimnis. Dass seine Frau Nadeshda Stalina ihm auch politisch die Stirn bot, ist heute eindrucksvoll belegbar.
Und doch weinte fast das ganze russische Volk nach Bekanntgabe seines Todes am 5. März 1953. Lew Kopelew sagte in einem früheren ZDF-Interview: »Das war nicht der richtige Stalin dem wir nachtrauerten in diesen Tagen, das war der Stalin-Mythos, das Stalin-Märchen«. Zum ersten Mal berichtet Stalins Leibwächter Nikolaj Novik, wie das eigene Misstrauen dem Tyrannen schließlich zum Verhängnis wurde. Stalins Nichte Kira und sein Patensohn Artjom Sergejev geben Einblicke in das Privatleben sowie erstmals ein (unehelicher) Enkel. Stalins Kameramann Abraham Chavtschin berichtet, wie der Kremlherr in Filmen inszeniert wurde. Zu sehen sind auch Todeslisten, die Stalin (meist mit Rotstift) unterzeichnete und erstmals ein Film vom Begräbnis der Stalin-Mutter, bei dem der Sohn sich nicht blicken ließ.